Analyse und Empfehlung von Günter Grassl (WiP – Wirtschaftsantrieb am Punkt) zu:
TTIP Transatlantic Trade and Investment Partnership = Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft
1. Wovon wir reden – die Export-Fakten:
In 2013 gingen folgende Exporte von EU nach USA: Güter 288,3 Mrd. Euro und Dienstleistungen 196,1 Mrd. Euro; 2013er Exporte von USA nach EU: Güter 158,8 Mrd. Euro, Dienstleistungen 146,1 Mrd. Euro. Die USA scheint also das Abkommen dringender zu brauchen als die EU.
2. Das spricht für diese Partnerschaft aus der Sicht der KMU:
* Freihandelsabkommen haben immer einen wirtschaftsbelebenden Effekt für deren Partner: Freihandel bleibt der Schlüssel zu mehr Wohlstand.
* Für KMU wird es auf beiden Seiten einen kostenlosen Helpdesk geben, der online Auskunft über Zölle, Zollabwicklung, Steuern, gesetzliche Regeln, Steuern, Marktchancen, usw. gibt
* TTIP wird nur dann in Kraft treten, wenn auch das österreichische Parlament zustimmt.
3. Das spricht gegen diese Partnerschaft aus der Sicht der KMU
* Die amerikanische Kultur unterscheidet sich ganz beträchtlich von der europäischen:
Wirtschaftssystem, Firmenstrukturen, Banksystem, Insolvenzrecht, Normen, Genehmigungskultur, Importabwicklung, nicht tarifäre Handelshemmnisse, Patentsystem, Justizsystem, Anwaltssystem, Arbeitswelt, Lohnstruktur, Umweltgesetze, Kennzeichnungsgesetze, Steuersystem, elektrischer Strom, Vertriebssysteme, Struktur der Lobbies, usw.
* Es ist daher unserer Meinung und Erfahrung nach unmöglich, in einem Abkommen alle Punkte zu berücksichtigen, die für beide Seiten faire Bedingungen sicherstellen. Die EU-Kommission wird zwar ein Komitee einsetzen, das mit den KMU zusammenarbeiten und deren Probleme an die EU und US Behörden weiterleiten soll, doch ist eine effektive Arbeit dieses Komitees bei der Fülle der oben angeführten Systemunterschiede kaum möglich. Die EU hat die KMU auch gefragt, welche Probleme sie beim Export in die USA haben und wird auf die Antworten hin Maßnahmen setzen. Wie bei allen Fragen der KMU-Wirtschaftspolitik sind die KMU kaum in der Lage hier umfassende Meinungen abzugeben.
* Genauso unmöglich ist es, in einem Abkommen alle Punkte zu berücksichtigen, die alle Unternehmergrößen fair behandeln.
* In der Vergangenheit sind in diesem Zusammenhang bereits das multilaterale Investitionsabkommen und das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) gescheitert
* Es ist ein Irrtum, dass in den Gebieten der beiden Partner eine freie Marktwirtschaft herrscht, obwohl sie immer wieder beschworen wird.
* In den USA ist eine Re-Industrialisierungskampagne im Gange, deren mögliche Auswirkungen auf das Abkommen zu berücksichtigen sind
* In den USA gibt es beträchtliche Widerstände der Gewerkschaften gegen TTIP
* In den USA gibt es innerhalb der Einzelstaaten beträchtliche Unterschiede in den verschiedenen Regeln. Hier müsste zu allererst eine Bestandsaufnahme durchgeführt werden.
* Es besteht die Gefahr, dass die großen Konzerne die TTIP in Richtung schwer veränderbarer Konzeroligarchie verzehren
* Für ein KMU ist es kostenmäßig und Manpower-mäßig praktisch unmöglich, in den USA einen Prozess oder ein Schiedsgerichtsverfahren zu führen
* Es besteht die Gefahr, dass Dinge und Regelungen, die uns Europäer wichtig sind, zu Handelshemmnissen erklärt werden, die nach dem Abkommen abgeschafft werden, müssen
* Statt endlich der Realwirtschaft helfende Regeln für den Finanzmarkt einzuführen, soll dieser noch mehr liberalisiert werden.
* Studien über die Auswirkungen der TTIP sind zwar mehrheitlich positiv, es gibt aber genug davon, die negative Folgen erwarten, z.B.:
* Neue US-Studie zu TTIP: Einkommens- und Jobverluste für Europa (Quelle: Börsenbrief Value Daily vom November 2014: Hier ein kleiner Auszug aus Liste der “Köstlichkeiten”:
- Verlust von mindestens 600.000 Arbeitsplätzen
- Einkommensverluste von 165 bis 5.000 EUR pro Person und Jahr
- Niedrigere Löhne
- Stark erhöhte Rezessionsgefahr
Diese Meldungen müssten untersucht werden.
4. Das wäre aus Sicht der KMU die beste Vorgangsweise:
* Die TTIP Schritt für Schritt branchenweise oder sogar Produktgruppenweise einführen, um zu sehen, wie es funktioniert. Dabei als erstes die Produkte bedienen, die derzeit schon am meisten gehandelt werden, weil hier das meiste Feedback zu erwarten ist. Mit den Lernprozessen aus diesen Produkten die nächsten Schritte setzen. Parallel zu diesem Vorgang das generelle Vertragswerk entwickeln
* Immer drei Abschnitte erarbeiten 1. Für KMU, 2. Für größere Unternehmen 3. Für Konzerne
* Genaues Monitoring der einzelnen Schritte
* Den Helpdesk für KMU auch in Europa in der jeweiligen Landessprache einrichten
* Sowohl in den USA als auch in der EU sind Ombudsstellen einzurichten
* Die in diesem und in anderen Dokumenten aufgezeigten Punkte, müssen unbedingt bei den Verhandlungen mit einbezogen werden.
5. Wichtige Hintergründe: Erfahrungen mit Exporten nach den USA
* Lieferungen und Leistungen an große Firmen, die Produkte mit europäischen Know-How kaufen, werden reibungslos von den USA importiert
* Lieferungen, die der amerikanischen Konkurrenz weh tun, sind sehr oft nur mit großen Schwierigkeiten einzuführen
* Bei Einsprüchen der amerikanischen Konkurrenz lässt die Zollbehörde die Ware einfach liegen und gibt sie erst wieder frei, wenn alle Einsprüche (auch die unsinnigsten) geklärt sind.
* Prozesse kosten ein Schweinegeld und dauern lange Zeit, in der man vom amerikanischen Markt ausgesperrt ist.
6. Erfahrungen der US-Handelspartner beim seit 1.1.1994 bestehenden NAFTA North American Free Trade Agreement (Nordamerikanisches Freihandelsabkommmen)
6.1 Mexiko
* Nach einer Studie des Instituto Nacional de Estadística y Geografía (INEGI) in Aguascalientes, Ags., México haben sich die Exporte in die USA von 1994 bis 2012 von 61 Mrd. $ auf 371 Mrd. $ versechsfacht. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die US-Firmen in Mexiko zu niedrigen Löhnen fertigen lassen, sodass diese Handelsbeziehungen nicht mit den Handelsbeziehungen USA – Europa verglichen werden können.
* Eine Studie des cepr Center for Economic and Policy Research in Washington, D.C. (www.cepr.net/documents/nafta-20-years-2014-02.pdf) kommt zu folgenden Bewertungsresultat:
While some of the policy changes were undoubtedly necessary and/or positive, the end result has been decades of economic failure by almost any economic or social indicator. This is true whether we compare Mexico to its developmentalist past, or even if the comparison is to the rest of Latin America since NAFTA. After 20 years, these results should provoke more public discussion as to what went wrong.
(Während einige der wirtschaftspolitischen Veränderungen unzweifelhaft notwendig und/oder positiv waren, das Endresultat waren Jahrzehnte von wirtschaftlichen Misserfolgen unter Berücksichtigung fast jedes wirtschaftlichen oder sozialen Indikators. Das trifft zu, ob wir Mexiko mit seiner eigenen Entwicklungsvergangenheit oder mit dem Rest von Lateinamerika seit der Gründung des NAFTA vergleichen. Nach 20 Jahren wäre es an der Zeit, diese Ergebnisse und was schief gelaufen ist, im größeren Ausmaß öffentlich zu diskutieren)
According to Mexican national statistics, Mexico’s poverty rate of 52.3 percent in 2012 is almost identical to the poverty rate of 1994.
(Nach dem mexikanischen Statistikamt ist die Armutsrate von Mexiko mit 52,3% im Jahre 2012 fast identisch mit der von 1994)
Real (inflation-adjusted) wages for Mexico were almost the same in 2012 as in 1994, up just 2.3 percent over 18 years, and barely above their level of 1980
(Die Reallöhne stiegen in den 18 Jahren nur um 2,3%)
Die Arbeitslosenrate ist von 3,3% auf 5% gestiegen.
Immer mehr Mexikaner kommen legal oder illegal in die USA.
6.2 Kanada
* Die kanadische Enzyklopädie (http://www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/free-trade/) kommt zu folgenden Schlüssen:
> Mexiko ist mit nur geringen kanadischen Exporten (0,5%) nur ein unwesentlicher Handelspartner
> NAFTA hat im Handelsverkehr mit den USA einige Merkmale eines gemeinsamen Marktes:
Großer Druck durch die USA sich an US-Zollsätze gegen über Drittländer anzupassen
Zwang zu einem hohen nordamerikanische Anteil bei den Ursprungsregeln für Consumer products
die verlangte Liberalisierung von Finanz- und anderen Dienstleitungen
das Problem der American countervailing and anti-dumping duties (Strafzölle für angenommene Unterkostenpreise)
Kanada darf bei 90% der öffentlichen Ausschreibungen nicht mitbieten
die Produktivität in Kanada ist um 25% niedriger als in der USA und hat sich durch NAFTA nicht verändert
> Die Homepage http://www.investopedia.com/articles/economics/08/north-american-free-trade-agreement.asp sagt Folgendes:
Canada has so far experienced significant benefit from:
U.S. investment in automotive production,
Increases in oil exports to the U.S. and the rest of the world,
Increases in shipment of beef, agricultural, wood and paper products to the U.S.
Export of mineral and mining products, which have fared well in U.S. markets.
Canada has, however, experienced some losses in narrow sectors such as specialty steel production and processed foods due to U.S. imports.
(Kanada hat bis jetzt beträchtliche Vorteile von US Investitionen in die Automobilindustrie erzielt. Öl Exporte nach USA und dem Rest der Welt sind gestiegen. Exportanstiege bei Rindfleisch, landwirtschaftlichen Produkten, Holz und Papierprodukten. Bergbauprodukte haben auch ganz gut abgeschnitten.
Einige Verluste sind bei Spezialstahlprodukten und Nahrungsmittelindustrieprodukten eingetreten)
Anmerkung: Vorteile für Kanada nur bei Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten.
Conclusion
While NAFTA’s overall financial impact has been generally positive, it has not lived up to the high expectations of its proponents. It has made many U.S. companies and investors rich – and their managements richer. But it has also cost many U.S. manufacturing workers their livelihoods while failing to raise living standards for most Mexicans. Any major market changes not dictated by market forces usually lead to both opportunity and loss, and this has happened with NAFTA.
(Während NAFTA generell positive Auswirkungen hat, wurden die hohen Erwartungen der Befürworter nicht erfüllt. Es hat viele US Firmen und Investoren reich gemacht – und deren Management noch reicher.. Aber es hat auch vielen US Industriearbeiter ihren Lebensunterhalt gekostet ohne den Lebensstandard der meisten Mexikaner zu erhöhen. Jede großen Marktveränderung, die nicht von den Marktkräften hervorgerufen werden, führen zu Chancen und Verlusten, auch bei NAFTA.
Kommentar von Lobby der Mitte: “Endlich ein wirklich seriöser, tiefgehender und auch lösungsorientierter Beitrag zur TTIP-Diskussion – KMU und Mittelstand sollten TTIP nur zustimmen, wenn die von Günter Grassl angeregte Vorgangsweise gewählt wird – nur wenn’s dem Mittelstand gut geht, geht’s uns allen gut!”