Das ist ein Reisebericht von Wolfgang Lusak über eine 2-wöchige Andalusien-Reise im April 2023. Er ist auch als Leseprobe aus seinem vorankommenden neuen Buch zu verstehen … erst wenn das herauskommt wird der Zusammenhang mit dem Mittelstand klar sein.
EL DORADO:
Das Gold der Andalusier
Gold, Gold. Alles hell beleuchtet. Ich stand vor diesem unglaublichen, gewaltigen Hochaltar und konnte nicht fassen, was ich sah, alles schien aus Gold zu bestehen. Das Retabel hinter dem Altartisch ist 25 Meter hoch und 20 Meter breit, es besteht aus 45 prachtvollen Relieffeldern mit holzgeschnitzten, komplett vergoldeten Szenen aus dem Leben von Jesus und der Gottesmutter Maria mit unzähligen weiteren Figuren. Zusammengehalten von starken aber fein strukturierten gotischen Säulen. Darüber ein herrliches Kreuzrippengewölbe. Davor in der Mitte des Zentralschiffs das ebenso hohe, von hunderten Holzschnitzereien umgebene, von zwei riesigen Orgeln überragte Chorgestühl. Beides unweit des raumfüllenden, berühmten, aus weißem Marmor bestehenden Grabmahls von Christopher Columbus, welches von vier ehernen, überlebensgroßen Repräsentanten der damaligen vier Königreiche Spaniens umkränzt und getragen wird. Ich bin in der Santa Maria De La Sede-Kathedrale in Sevilla, die wie vieles hier auf den Fundamenten der maurischen, also arabisch-berberischer Moscheen, Paläste und Burgen errichtet worden war. Weil es den „katholischen Königen“ gelungen war, die seit dem 7. Jahrhundert währende islamische Herrschaft über fast ganz Spanien im 14. Jahrhundert endgültig abzuschütteln und weil sie danach fast alle Moscheen zerstört hatten.
Die kirchlichen Erbauer dieser Kathedrale waren mit dem ausdrücklichen Ziel angetreten, dass auf alle Zeit jeder Besucher dieser Kathedrale deren Errichter für „verrückt halten sollte“. Sie wollten etwas vorher noch nie Dagewesenes schaffen, der Befreiung Spaniens von der „islamischen Besetzung“ ein ewiges Denkmal setzen. Lange Zeit blieb die Kathedrale die größte der Welt, die Kirche mit dem größten Altar ist sie bis heute geblieben. Woher das Geld, das Gold, der notwendige Reichtum dafür kam? Vielleicht aus den Schätzen der vertriebenen Mauren und Juden. Nicht viel später sicher aus dem 1492 von Columbus entdeckten Amerika, aus dem, was Columbus´ selbst und seine Epigonen wie Cortès und Pizarro den Ureinwohnern abnahmen oder aus diesen in Bergwerken, Landwirtschaft und Handwerkskunst grausamst mit Fronarbeit abpressten. Aus der Ausbeutung des El Dorado, des Gold-Landes, jenem sagenhaften Sehnsuchtsland, das niemand so richtig fand, weil die Gier nie gestillt werden konnte. Jenem Land, das der Sage nach seine Plünderer mit einem Fluch bestraft. Und tatsächlich sollte die Spanier langfristig gesehen auch wieder so richtig das Glück verlassen.
Einen Tag vorher hatte ich den Alcázar, den mittelalterlichen Königspalast von Sevilla besucht, der natürlich auch eine maurische Vorgeschichte hatte und teilweise im islamischen Stil erhalten blieb. So großartig die Prunkräume, die Patios und die Gärten dort sind, am meisten hat mich ein Haus, nämlich die „Casa de Contratación“ beeindruckt, weil diese zwar nicht so hervorragend schön ausgestattet aber tatsächlich die eigentliche Geburtsstätte des spanischen Weltreichs war, mehr noch, das Wirtschaftsmacht-Zentrum der Welt. So was wie später die City of London, die Wall Street von New York waren und vermutlich bald Peking oder – wer weiß – Riad und Dubai sind. Sie war vergleichsweise sogar noch mächtiger. Weil dort alles zusammenlief, sie war Steuerbehörde, Auswanderungsbehörde, Edelmetallkontrolle, Handelszentrum und Versorgung für die Kolonien, Seefahrtsbehörde und Staatsbank, eng vernetzt mit Königshaus und Militär, quasi ein „War Room“. Sevilla und Andalusien hatten die damaligen Ingredienzien einer Weltmacht in sich vereint: Wagemutige Abenteurer, Entdecker, Soldaten und Unternehmer, eine absolutistische Adelsherrschaft und den Segen Gottes in Form einer omnipräsenten katholischen Kirche, welche den König mit ihrem „Gottesgnadentum“, einem „göttlichen Recht“ stützte, die Masse der Gläubigen in Schach hielt und dafür gewaltige Kirchen bauen durfte.
Aufstieg und Fall des spanischen Weltreichs
Bei den spanischen Königen, waren es nach der „Reconquista“, der Vertreibung der Mauren übrigens die Habsburger, die eine tragende Rolle spielten. Denn schon 1496 heiratete Philipp „der Schöne“, der Sohn des Habsburgers und Kaisers Maximilian die Spanierin Johanna von Kastilien „die Wahnsinnige“, wurde König von Kastilien. Ihm folgte 20 Jahre später deren Sohn, Karl der Fünfte als König von ganz Spanien nach, der noch dazu 1530 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches wurde und in dessen Ländern von Österreich, Niederlande und Spanien bis Amerika „die Sonne niemals untergeht“. Aber wie rasch sie wieder unterging. Obwohl mit den Habsburgern in Spanien eine neue, stolze Nation entstanden war, obwohl der Aufschwung zur Nr.1-Weltmacht stattfand, obwohl die Kolonien und neue Wirtschaftszweige breiten neuen Wohlstand erzeugten, obwohl die Kirche mit Brot und Spielen aber auch einer beinharten Inquisition die Bevölkerung bei der Stange hielt: Schon 1588 verloren die Spanier den Großteil ihrer Armada in der bekannten Seeschlacht vor der britischen Küste gegen eine eigentlich schwächere englische Flotte, die vor allem von englischen Piraten-Kapitänen wie Francis Drake angeführt worden war. Jenem Drake, der vorher schon seine Königin Elisabeth mit wertvollen Prisen von gekaperten spanischen Gallonen entzückt hatte. Damit war Spanien zwar nicht wirklich besiegt worden, aber der Aufstieg der Engländer zur Seemacht Nr.1 war ab da nicht mehr aufzuhalten.
Das alles hatte in Sevilla begonnen, der Stadt in der wir gerade Urlaub machten, wo Columbus vor mehr als 500 Jahre seine Entdeckungsfahrten vorbereitete. Das alles hatte Spanien eine Großartigkeit gebracht, die auch heute noch in extremer Architektur, wilden Stierkämpfen, martialischen Flamenco-Tänzen sowie dem erfolgreichsten Fußballklub der Welt, den „Königlichen“ aus Madrid erlebbar ist. Anders als die Mehrzahl der europäischen Spitzenklubs ist Real Madrid weder im Privatbesitz, noch eine Aktiengesellschaft. Der Verein gehört vollständig seinen fast 100.000 Mitgliedern. Dennoch hat ihn der globale Kapitalismus längst erfasst, er hat fast eine Milliarde Schulden aber einen starken Hauptsponsor. Wer kennt ihn? Richtig: Die Emirates mit ihrer Fluglinie. Eine Genugtuung für die Araber?
So jedenfalls wurden in Mittelalter und Neuzeit Helden gemacht, Nationen gebildet, viele Menschen umgebracht und wenige sehr reich gemacht. Im Rahmen einer die Mehrheit täuschenden Erzählung über eine staatliche Einheit, in der nur wenige das Sagen haben. Immer setzten dabei Sieger und Herrscher öffentliche Zeichen ihrer Allmacht mit Unterstützung einer Staatsreligion. Gleichzeitig wurden aus brutalen Kriegern und Wirtschaftslenkern Förderer der schönen Künste, ihre Kinder in Eliteschulen kultiviert. Das alles miteinander ist das Modell aus dem das Europa der Nationalstaaten gewachsen ist. Ein Modell, das bis heute existiert, mit all seinen Stärken und Nachteilen. Auch wenn es mit den Monarchien de facto vorbei ist, auch wenn wir Demokratien sind. Jetzt haben wir Banken und Konzerne an der Spitze. Ein Modell, das die EU bei der Schaffung einer – wie ich meine notwendigen – europäischen Einheit, Verstärkung und Daseinsvorsorge behindert.
Bei Pablo auf der Bank
Kritische Überlegungen treten zwar auf, bei einer Kulturreise wie dieser, die uns nicht nur nach Sevilla, sondern auch nach Cordoba, Ronda, Malaga und Granada führte, in den Hintergrund. Milde und Freude dominiert. Andalusien ist weiterhin von Schönheit, Wagemut, Kreativität, Temperament und einer unersättlichen Gier nach Leben geprägt, was überall spürbar ist. Demgemäß entwickelten meine Liebste und ich von Anfang an eine unersättlich Lust auf schöne Häuser, Plätze und Landschaften, auf gutes Essen und Trinken, auf Sonne und Meer, auf Geschichten Andalusiens, auf die Werke spanischer Künstler.
Wir sahen berührende Gemälde von Velázquez, El Greco und Goya und aufwühlende Bilder von Dali, Miro und Picasso. Mit Pablo Picasso saßen wir sogar gemeinsam auf einer Bank, er war allerdings aus Bronze und wir ließen uns mit ihm fotografieren. Dank der Idee meiner Liebsten hatten wir nämlich in Malaga sein nun als Museum ausgestaltetes Geburtshaus besucht, vor dem er als lebensgroße Skulptur auf einer Sitzbank saß. Drinnen konnte man anhand vieler Dokumente, Fotos und auch Original-Bilder sein Leben und sein Werk sehr unmittelbar nachvollziehen. Jedenfalls war er nicht nur Künstler, sondern auch Philosoph: „Für mich gibt es keine Zukunft oder Vergangenheit in der Kunst. Wenn ein Kunstwerk über keinen Gegenwartsbezug, über keine klare Präsenz verfügt, dann kann es vernachlässigt werden. Die Kunst der Griechen und Ägypter sowie der großen klassischen Meister, die in anderen Zeiten lebten, ist keine Kunst der Vergangenheit; vielleicht ist sie heute mehr am Leben als sie es je war.“ Meine Übersetzung eines Zitats Picassos, das in seinem Geburtshaus zu lesen war. Was mich darin bestätigt, dass große Geister, ganz gleich in welchem Beruf sie tätig waren, immer auch weise Lehrer, immer auch zeitlose Mystiker waren.
Wir schlüpften hinein in das sprudelnde Leben der Spanier, in die Alten und Jungen, die leger Schlendernden und elegant Eingehängten, die Hungrigen und Durstigen. Immer auch auf der Suche nach authentischen Bodegas, Tapas-Bars, und „Restaurantes“ mit hausgemachter regionaler Küche. So fanden wir unter anderen die Bodegas „Dos de Mayo“ in Sevilla und „El Pimpi“ in Malaga. Wir versanken dort in Meeresfrüchte-Gerichten, Shrimps in Olivenöl, Kabeljau in verschiedensten Varianten, Bohneneintöpfen mit Wurst, Fleischbällchen in Tomatensauce. Natürlich klang das alles auf Spanisch noch viel besser, Paella, Gambas Pil Pil, Bacalao, Estofado mit Chorizo, Albondigos. Noch mehr versanken wir in süßer, dicker heißer Schokolade, in der buchstäblich der Löffel stecken blieb und in die man „Churros“ tunkte, aus Krapfen-artigem Teig breit dressierte und in Olivenöl frittierte schmale, gerillte Stangen, unvergesslich. Wir tranken auch gute Weiss- und Rotweine, natürlich auch Jeres, also Sherry, dessen Name sich vermutlich auf die maurische Bezeichnung „Sheris“ der dazu gehörenden Stadt und Gegend ableitet. Vielleicht haben ihn ja die Mauren auch getrunken, lang genug waren sie ja dort heimisch.
Die Mauren hatten auch ihre Musik nach Spanien gebracht, ebenso die „Gitanos“, die Roma aus Indien und die Juden. Alle drei sollen mit ihrer Musik die spanische Volksmusik und damit auch die Entstehung des Flamenco beeinflusst haben. Als ich bei dem Besuch eines Flamenco-Abends in Sevilla – natürlich mit Gitarre, Gesang und Tanz vorgetragen – diesen Schrei gehört habe, diesen eröffnenden, in längeren Tonstufe-Abfolgen rauf und runter ausgestoßenen Ruf, habe ich sofort den brennenden Schmerz gefühlt, den er ausdrückt. Den Schmerz der Gedemütigten, Misshandelten, Gequälten. Den Schmerz der bei Autodafés Hingerichteten, teilweise auch bei lebendigem Leib Verbrannten. Es waren ja von Haus aus die Roma, nach der Reconquista auch die verbliebenen Araber und Juden die verfolgt wurden und sich schmerzvoll unterwerfen, zumeist auch zum Christentum konvertieren mussten. Aber vielleicht ist es auch der Schrei der spanischen Bauern, Soldaten und Arbeiter, der Schrei der Prostituierten, Wäscherinnen und Tabakarbeiterinnen, die geschunden von Caballeros, Granden und Inquisitionsrichtern ein grausames Dasein fristeten. Alles gebündelt in einem dramatischen rot-schwarz-bunten Kunstwerk. Der Flamenco drückt aber nicht nur Schmerz und Leid aus, auch Aufbegehren, Stolz und leidenschaftliche Liebe. Wenn die Absätze der Tänzer auf den Boden trommeln, wenn sich die Körper drehen, biegen und strecken, wenn die Gitarren ganz hart „geschlagen“ werden, wenn zum Schluss der Kopf hochgerissen wird, um im Triumpf auf alles herabzublicken. Aufregend, mitreißend. Hat noch ein Volk so einen martialischen und zugleich auch sanft hingebungsvollen Tanz?
Ein Land ein wenig zu verstehen geht nur, wenn man auch mit den Menschen dort redet. Allzu viele Gelegenheiten gab es nicht, aber immerhin: Wir sprachen mit einer holländischen Gastronomin, die seit 20 Jahren in Malaga ist und auch fast so lange dort ein Restaurant betreibt, „ich bin so gerne hier, muss zwar viel arbeiten, aber die Luft, das Leben, die Kraft hier ist fantastisch“. Mit einer polnischen Studentin und Kellnerin „war nicht leicht mit der Sprache, aber jetzt bin ich da und will nicht mehr weg“. Mit einem Barmann, einem Schweizer mit italienischem Namen, der sieben Sprachen spricht „Ich bin wegen der Liebe hier, aber der Arbeitsdruck ist enorm, die Arbeitszeit hart, das Gehalt zu gering. Ich hoffe ich halte das durch und kann mich selbständig machen“. Unser gelegentlicher Taxi-Chauffeur und Taxi-Flotten-Besitzer Jose, ein fescher Spanier, „Sie sind der Boss, ich fahre Sie hin, wo sie wollen“. Er war aber keineswegs untertänig, stolze Haltung, klare Sprache, guter Unternehmer, immer fair, keine Tricks. Den nehmen wir beim nächsten Mal wieder. Und Jaime, unser gelegentlicher Fremdenführer, kleiner, drahtiger Spanier mit arabischen Wurzeln, seine Vorfahren seien schon vor hunderten Jahren zum katholischen Glauben konvertiert. „Das war doch klug, hier haben wir es besser“, meinte er. Über sein Privatleben berichtete er unaufgefordert „zu meiner Frau sage ich nie nein, ich sage Ja, Schätzchen, sehr gerne Schätzchen, Du hast recht Schätzchen. Einmal hat sie mich gefragt, woher ich wüsste, dass sie recht hat, wo sie doch noch fast nichts gesagt habe. Weil ich doch weiß, dass Du immer recht hast“, hätte er ihr geantwortet. Aber er ließ bauernschlau durchblicken, dass er es dennoch immer schaffe, zu tun was ihm beliebt. Bei diesen und anderen, selbstgefälligen Äußerungen dachte er nicht daran, welchen charakterlichen Eindruck er auf seine Touristen damit macht. Auch ein Stück Andalusien, Spanien, El Dorado.
Wolfgang Lusak