So vernachlässigt EU den Mittelstand

Ein sehr präzise recherchierter und für den Mittelstand in Europa ärgerlicher Report von Oliver Grimm, der als Wirtschaftsjournalist und Korrespondent für die österreichische Tageszeitung DIE PRESSE in Brüssel schreibt

So vernachlässigt EU den Mittelstand

„auch unter Ursula von der Leyen ist der Mittelstand ein beliebtes Accessoire für Festreden – aber wenn es um konkrete Maßnahmen geht, nur ein Stiefkind“

das Ansinnen meines Chefredakteurs war ebenso klar wie herausfordernd: einmal pro Woche zusammenzufassen, was sich in der Brüsseler Politikmaschine zusammenbraut, das von Interesse für kleine und mittelständische Unternehmen in Österreich sein könnte. Denn die haben, anders als die ganz großen, keine eigene Repräsentanz im Schuman-Viertel, keine Konsulenten, die in Kommission und Parlament ein- und ausgehen, und können keinen Einfluss auf die Vorschriften nehmen, denen sie sich letztlich zu fügen haben. Denen sollten „Die Presse“ regelmäßig eine Art Wasserstandsmeldung in Sachen Binnenmarkt, Dienstleistungen, und Wettbewerbsbedingungen liefern. Man will schließlich wissen, aus welcher Richtung der Wind weht – und vor allem, wie warm man sich anziehen muss.

Sehen wir uns also in der ersten Ausgabe dieses Newsletters an, was für die EU für KMU zu tun gedenkt. Das trifft sich zeitlich äußerst günstig. Denn die Europäische Kommission hat in den letzten Zügen der ersten (und möglicherweise einzigen) Amtszeit von Präsidentin Ursula von der Leyen ihre Liebe zum Mittelstand (Kleinunternehmen dürfen sich mitgemeint fühlen) wiederentdeckt. Sie strebe es an, „den europäischen Unternehmen ihre Tätigkeit zu erleichtern“, sagte von der Leyen am 13. September in ihrer jährlichen Rede zur Lage der Union vor dem Europaparlament in Straßburg. „Kleinen Unternehmen fehlt es an Kapazitäten, komplexe administrative Anforderungen zu erfüllen. Oder sie werden durch langwierige Verfahren gebremst“, sprach sie. „Dies bedeutet oft, dass sie die zur Verfügung stehende Zeit schlechter nutzen können – und dass ihnen Wachstumschancen entgehen.“

Hört, hört, mag sich so mancher Unternehmer denken angesichts dieser Binsenweisheiten. Was also schlug von der Leyen vor, um dem Missstand der bürokratischen Überforderung des Mittelstandes entgegenzutreten? Sie kündigte an, noch vor Endes des Jahres einen KMU-Beauftragten der EU zu ernennen, „der mir direkt Bericht erstattet.“ Auf diese Weise wolle sie „von den kleinen und mittleren Unternehmen direkt erfahren, vor welchen Herausforderungen sie tagtäglich stehen.“

Zudem werde ein „unabhängiger Ausschuss“ im Auftrag der Kommission „jeden neuen Rechtsakt einem Wettbewerbsfähigkeits-Check-up“ unterziehen. Und: schon im Oktober werde die Kommission „die ersten Legislativvorschläge zur Verringerung der Meldepflichten auf europäischer Ebene um 25 Prozent vorlegen.“

Was wurde aus diesem kühnen Versprechen der bürokratischen Entlastung des Mittelstandes? Nun, fürs erste nicht viel. Wie so oft hat von der Leyen mehr versprochen, als sie tatsächlich umsetzte. Die „ersten Legislativvorschläge zur Verringerung der Meldepflichten auf europäischer Ebene um 25 Prozent“ legte sie weder im Oktober vor, noch im November. Stattdessen lancierte die Kommission eine Sondierung, im Rahmen derer jedermann die Gelegenheit hat, „sich zur Einschätzung des Problems durch die Kommission und zu möglichen Lösungen zu äußern und uns alle sachdienlichen Informationen zu übermitteln.“ Bis 1. Dezember, hätten Sie noch an dieser Konsultation teilnehmen können.

Allerdings möchte ich Ihnen keine allzu großen Hoffnungen auf rasche Entbürokratisierung machen. Ein Viertel weniger behördlicher Meldepflichten wird es unter der Kommission von der Leyen nicht mehr spielen. Als „vorläufiger Zeitplan“ führt die Kommission in diesem Dokument „2024-2025“ an. Das ist auch logisch: im Juli ist die Europawahl, alle jetzt noch offenen Gesetzgebungsverfahren werden unter der belgischen EU-Ratspräsidentschaft spätestens im April abgeschlossen werden müssen. Was dann noch offen ist, hat keine Chance mehr, noch in dieser Legislaturperiode erledigt zu werden.

Es ist insofern illusorisch zu glauben, die Kommission könnte nach Abschluss der Minus-25-Prozent-Bürokratie-Konsultation konkrete Gesetzesvorschläge vorlegen, die es dann binnen vier Monaten durch Rat und Parlament schaffen. Woran übrigens auch der angekündigte KMU-Beauftragte der EU nichts ändern wird können – sofern er überhaupt noch heuer ernannt wird. „Heuer“ heißt nämlich bis 20. Dezember: da tagt die Kommission zum letzten Mal im Alten Jahr.

Und so muss ich diesen ersten Economist-Newsletter aus Brüssel mit der ernüchternden Feststellung schließen: auch unter Ursula von der Leyen ist der Mittelstand ein beliebtes Accessoire für Festreden – aber wenn es um konkrete Maßnahmen geht, nur ein Stiefkind.

Mit dennoch besten Wünschen aus Brüssel  verbleibt Ihr

Oliver Grimm