Requiem für den „EU Green Deal“

Wir bringen den aktuellen Kommentar des Brüssel-Korrespondenten Oliver Grimm von DIE PRESSE zu den aktuellen Entwicklungen in Brüssel in Bezug auf die dortigen Reaktionen auf die Wirtschaftsschwächen Europas, die ziemlich deftigen Ansagen Donald Trumps und die letzten großen Wahlen in Europa

Requiem für den „EU Green Deal“

es ist eine Binsenweisheit: Corona, Ukraine-Krieg und Inflation haben die politischen Präferenzen der Europäer stark verschoben. War 2019 der Kampf gegen den Klimawandel noch eines der Schlüsselthemen, das in Umfrage nach Umfrage als das wichtigste genannt wurde, geht es nun um Sicherheit und wirtschaftlichen Wohlstand.

Aber ist den Menschen das Entgleiten des Klimas wirklich gleichgültig geworden? Das Brüsseler Forschungsinstitut Bruegel hat am Dienstag die Ergebnisse der Befragung von 7819 Menschen in Deutschland, Frankreich, Polen, Schweden und Italien veröffentlicht, welche dieser Frage auf den Grund ging. Fazit der Studienautoren: „Die große Mehrheit der Europäer unterstützt weiterhin Aktionen, um den Klimawandel zu bekämpfen, aber viele verlieren den Glauben daran, dass Regierungen einen Wandel herbeiführen können, der wirksam und gerecht ist.“

Besonders aussagekräftig finde ich die Antworten auf die Frage: „Was sollten Ihrer Meinung nach die politischen Prioritäten der EU in den nächsten Jahren sein?“ Auf Platz eins landen, wenig überraschend, „Wirtschaftliche Stabilität und Wachstum“ mit 60 Prozent Zuspruch. „Sicherheit und Verteidigung“ kommen knapp dahinter mit 58 Prozent. Doch dann folgt bereits mit 39 Prozent „Umweltnachhaltigkeit und der Kampf gegen den Klimawandel“ – noch vor „Immigrations- und Flüchtlingspolitik“ mit 38 Prozent.

Lassen Sie diesen Befund bitte kurz sickern: seit Jahren sind Migration und Asyl in der medialen und politischen Debatte die Spitzenthemen, sie lassen Regierungen stürzen (so geschehen beispielsweise Ende 2018 in Belgien), und tragen rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien bei Wahlen knapp an die und manchmal über die 30-Prozent-Schwelle – dabei ist Klima- und Umweltpolitik den Bürgern en gros ein genauso großes, wenn nicht größeres Anliegen.

Politisch relevant scheint mir ein weiterer Befund dieser Umfrage: im Vergleich zu einer fast identischen Befragung im Jahr 2020 ist der Anteil jener, die es befürworten, dass sich die Menschen an das geänderte Klima anpassen, gegenüber jenen, die alles Erdenkliche zum Aufhalten des Klimawandels getan sehen wollen, stark gestiegen. In Schweden findet nun eine relative Mehrheit von 44 Prozent der Befragten, dass man sich eher auf die Anpassung an das veränderte Klima konzentrieren sollte, statt seine Veränderung zu stoppen zu versuchen.

Die Studie umfasst neben dieser Umfrage, die im April vorigen Jahres knapp vor der Europawahl stattfand, auch vier Fokusgruppen mit jeweils sieben oder acht Teilnehmern, die am 23. und 24. Jänner in Leipzig detailliert befragt wurden. Hier kam etwas heraus, das mich stark überrascht hat: „Menschen, die denken, dass sich ihre finanzielle Situation in den nächsten Jahren verschlechtern wird, unterstützen um elf Prozentpunkte weniger Maßnahmen, um den Klimawandel zu stoppen“, resümieren die Studienautoren. Doch diese Gruppe ist generell über die Klimakrise um acht Prozentpunkte mehr besorgt, als jene, die denken, dass sich ihre Situation verbessern wird.

All das würde ich, zusammengefasst, als Requiem auf den EU Green Deal bezeichnen. Von Anfang an hat er die sozialen Auswirkungen der Energiewende viel zu wenig Rücksicht genommen. Ich werde mich bis ans Ende meiner Tage sehr gut an die saloppe Antwort eines hohen Kommissionsfunktionärs auf meinen Einwand erinnern, wonach sich die Kosten für die Sanierung unseres Hausdaches vermutlich erst in 40 Jahren rentieren werden: „Das zeigt nur, dass Sie zu wenig für Energie bezahlen.“

Oder, wie es die Bruegel-Studienautoren zusammenfassen: „Die Europäer wollen weiterhin, dass ihre Regierungen gegen den Klimawandel handeln, aber sie haben begrenztes Vertrauen in die Fähigkeit der Staaten, das zu leisten.

Oliver Grimm